Berliner Geschichten

 

Hier finden Sie Geschichten von 

 

Familie Selten und Familie Lustig

Familie Messerschmidt

Familie Reich

Familie Flatauer

Familie Steiner

Familie Leber

Familie Fiegel

Familie Isaacson

Dr Dimitri Roman Stein

Albert Einstein

Familie Meyer

Claire und Harry Herzfeld

Benedict Lachmann

Familien Kastan, Stargardt, Simon und Kaufmann

Familie Landsberger

Eva Levi, geb. Wolffheim

Die Schwestern Lily und Elsa Katz

Familie Messerschmidt

Der Architekt Kurt Messerschmidt (c) Dan Messerschmidt

Am Anfang der Geschichte des Hauses Gervinusstraße 20 steht eine Erbschaft. Es ist im Jahr 1910, als Kurt Messerschmidt von seinem Vater Geld vererbt bekommt. Er nutzt es, um ein großes Mietshaus nahe dem Bahnhof Charlottenburg zu bauen. Kurt Messerschmidt ist Architekt. Nach seinen eigenen Entwürfen wird das Haus mit der Nummer 20 zwei Jahre später fertiggestellt. Kurt Messerschmidt ist bei der Bauabteilung der Jüdischen Gemeinde angestellt. Der jüdische Sportplatz im Grunewald war eines seiner Projekte, aber auch die Synagogen in der Fasanen- und Prinzregentenstraße. Von Beginn an leben im Haus jüdische und nichtjüdische Berliner*innen nebeneinander. Es entstehen Freundschaften. Kinder werden geboren. 1919 zum Beispiel Charlotte Messerschmidts Sohn, Hans Peter. Die glückliche Zeit des Hauses ist 1933 vorbei. Ab 1938 ist aus Erniedrigung und Entrechtung von Juden offener Terror geworden. Messerschmidts miterbaute Synagogen werden niedergebrannt. Er gehört zu den tausenden jüdischen Männern der Stadt, die verhaftet werden. Er wird in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. Nach der sog. „Fabrikaktion“ werden er und seine Schwiegertochter Ilse (genannt Inge) verhaftet. Seine Frau Charlotte und sein Sohn Hans Peter melden sich daraufhin freiwillig zur Deportation. Kurt, Charlotte und Ilse Messerschmidt werden vermutlich am Tag ihrer Ankunft in Auschwitz, am 13. März 1943 ermordet. Sein Sohn Hans-Peter überlebt Monowitz und andere Lager. Er beginnt 1947 mit einer Erinnerungstafel im Hausflur der früheren Nachbar*innen und Nachbarn zu gedenken. 

 

Familie Reich

Ruth und Manfred Reich (c) Jack M. Weil

 

Im Erdgeschoss wohnte in den 1920er Jahren Familie Reich. Zwischen ihr und den Messerschmidts gibt es freundschaftliche Bande. Nicht nur die Eltern sind miteinander befreundet. Auch die Kinder Hans-Peter, Manfred und Ruth spielen zusammen. Als Tochter Ruth 1937 im „Speisehaus Adolf Veit“ am Kurfürstendamm ihre Hochzeit feiert, wird das Vermieter-Ehepaar eingeladen und mit Versen in der Hochzeits-Zeitung bedacht. Wenige Monate später gehören die Reichs zu den ersten jüdischen Deportationsopfern. Benno Reich war mit seinen Eltern vor der Jahrhundertwende aus Polen nach Berlin eingewandert. Weil die Reichs nicht die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hatten, werden sie nun abgeschoben: Vater Benno und Sohn Manfred, später auch Ehefrau Herta Lina. Schon im Oktober 1938 vertreibt man sie in das Niemandsland zwischen Deutschland und Polen. Ihr letztes Lebenszeichen stammt später aus dem Krakauer Ghetto. Ruth überlebt die Konzentrationslager Westerbork und Bergen-Belsen. Sie besucht nach dem Krieg das Haus. Seit 2018 kommt ihr Sohn Jack aus Amsterdam hierher, um die Geschichte seiner Verwandten mit den heutigen Bewohnern des Hauses zu teilen.

 

Ruth Flatauer

Ruth Flatauer, ca. 1933  und Ruth Parker, 2018    (c) Ruth Parker

Im zweiten Stock wohnt 1938 noch eine andere Ruth: die 10-jährige Ruth Flatauer. Das Mädchen lebt bei ihren Großeltern, den Jacobys. Auch ihre Onkel werden am 9. November 1938 ebenso wie der Vermieter Kurt Messerschmidt ins KZ Sachsenhausen deportiert. Wochen später kehren sie mit geschorenen Köpfen und einer Verschwiegenheits-Verpflichtung zurück. Heute lebt die über 90jährige in den Midlands bei Birmingham. Ruth erinnert sich, wie sie an jenem Morgen der großen Pogrome „ganz normal aufgestanden“ ist. Sie machte sich auf den Weg, lief die Treppen hinunter zur Schule. Vor der Haustür traf sie einen Jungen, etwa 14 Jahre alt - in HJ-Uniform. „Er lebte wahrscheinlich in unserem Haus. Und – interessant - ich dachte: Zu dieser Zeit sollte der doch eigentlich in der Schule sein! Heute vermute ich, dass er vorher geholfen hatte, die Synagoge in Brand zu setzen. Aber er sagte zu mir: ‚Geh nicht zur Schule, deine Schule brennt.‘ Und ich dachte, der macht Witze.“ Ruths Schule war ebenfalls abgebrannt. Drei Monate später entkommt sie auf dem Schiff USS-Manhattan mit einem Kindertransport nach England.

 

Dr. Moritz und Elfriede Steiner

Dr. Moritz und Elfriede Steiner (c) Eva Caemmerer

Über 40 jüdischen Bewohnern des Hauses Gervinusstraße gelingt die Flucht nicht mehr. Sie werden in die verschiedensten Lager deportiert und ermordet. 1939 wird die Gervinusstraße 20 ein sogenanntes „Judenhaus“. Jüdische Mieter in Charlottenburg werden aus ihren schönen  Stadtwohnungen vertrieben.

Dieses Schicksal erleidet auch der Medizinalrat Dr. Moritz Steiner mit seiner zweiten Ehefrau Elfriede,  die er nach dem frühen Tod seiner ersten Frau Anna geheiratet hatte. Sie leben ca. 25 Jahre in einer großen Wohnung in der Karlsruher Str. 15. Dort befindet sich auch die Praxis von Dr. Steiner. Einer seiner Patienten ist Stefan Zweig, dem das Ehepaar Steiner freundschaftlich verbunden ist. 1939 zwingen die Nationalsozialisten Dr. Steiner und seine Ehefrau, ihre Wohnung aufzugeben. Ihr Hausrat wird beschlagnahmt und verkauft. Sie müssen "auf die andere Seite" des Kurfürstendamms ziehen, in eine kleine Wohnung in der Hektorstraße 2. Diese Wohnung teilen sie sich mit den Geschwistern von Elfriede Steiner, Anna und Georg Bergmann. Diese sind zuvor gezwungen worden, ihre Wohnung in der Dortmunder Str. 4 zu verlassen. Anna und Georg Bergmann, der vormals Einkäufer im Kaufhaus Nathan Israel war,  werden nach Riga deportiert. Dort verliert sich ihre Spur. Bald muss das Ehepaar Steiner auch die Wohnung in der Hektorstr. 2 verlassen und in die Gervinusstr. 20 umziehen.  1941 gehören sie vermutlich zu den ältesten – unfreiwilligen - Bewohner*innen des Hauses Gervinusstraße 20. Mit dem sogenannten 3. Großen Alterstransport werden sie am 3. Oktober 1942 vom Bahnhof Grunewald nach Theresienstadt deportiert. Beide sterben im Konzentrationslager Theresienstadt, Dr. Steiner am 31. Oktober 1942 im Alter von 85 Jahren,  seine Ehefrau am 27. Dezember 1942 im Alter von 74 Jahren. Moritz Steiner wurde 1857 in Sohrau (Żory), Oberschlesien in eine eine kinderreiche Familie geboren, und es war für ihn als Juden nicht einfach, zum Medizinstudium zugelassen zu werden. Er studierte  in Greifswald, Wien und Erlangen, wo er auch promovierte. Bereits im Alter von  24 Jahren war er approbierter Arzt. Er war zunächst Stabsarzt, später Kreisarzt und praktizierte viele Jahre in Rosenberg/Oberschlesien. Mit Ende 50 nahm er in Belgien als Sanitätsoffizier am Ersten Weltkrieg teil. Später zog er mit seiner Frau nach Berlin und führte bis zum Ende seiner Berufstätigkeit seine Praxis "um die Ecke" in der Karlsruher Str. 15. Dr. Steiners Urenkelin, Eva Caemmerer, lebt in Berlin. Sie und ihre Kinder sind seine einzigen Nachkommen.

 

Für das gigantomanische Projekt „Hauptstadt Germania" werden auch Moritz Steiner und seine Frau von den Nazis zur "Verschiebemasse" gemacht: Der Magistrat von Berlin requiriert ihre Wohnungen. Erst werden sie für arische Mieter „entmietet“, deren Häuser abgerissen werden. Bald aber wird das Berliner System der „Judenhäuser“ von Generalbauinspektor Albert Speer, dem späteren Rüstungsminister, zum Selbstbedienungsladen: Der Berliner Immobilienraub durch NS-Organisationen hat begonnen. Die Vertriebenen landen u.a. in der Gervinusstraße. In einzelnen sogenannten „Judenwohnungen“ des Hauses, wie dem der Steiners, geht es bald Schlag auf Schlag. Kaum ist ein älterer jüdischer Bewohner „in den Osten“ deportiert worden, wird auch schon der nächste Mieter in sein Zimmer eingewiesen.

 

Nach Kriegsende

Ruth Reich-Weil vor dem Haus ihrer Kindheit und Jugend, 1974  (c) Jack M. Weil

Einige dieser offiziellen Einweisungsbescheide für das Haus Gervinusstraße 20 sind erhalten geblieben: Nach dem Krieg gelang es dem Sohn des Architekten Kurt Messerschmidt, das Haus seines Vaters vor Gericht zurückzuerhalten. Viele Dokumente seines Vaters lagen versteckt im Kohlenkeller, irgendwo in einem Geheimverschlag zwischen dem „jüdischen“ und dem „arischen Luftschutzraum“. So sind sie erhalten geblieben. Sohn Hans-Peter Messerschmidt überlebte Auschwitz-Monowitz und kehrte 1945 in das Haus zurück. Erst in den 1950ern darf er einige Altnazi-Mieter aus dem Haus werfen. Andere Überlebende nahmen nun wieder Kontakt zum Haus auf: Der jüdische Apotheker Hinzelmann war nach Shanghai geflüchtet, kehrte vermutlich hierher und zu seiner christlichen Ehefrau zurück. Ruth Weil-Reich besucht das Haus ihrer Kindheit in den 1970er Jahren. Zwei Töchter und eine Enkeltochter der Familie Jacoby waren nach England geflohen. Lotte Jacoby, nun Lotte Moos, schreibt 1946 von dort an den Auschwitz-Überlebenden Hans-Peter Messerschmidt, den Sohn des ermordeten Erbauers. Sie sucht nach ihrem Großvater. Vergeblich. Hans-Peter Messerschmidt hatte als junger Mann noch selbst Großvater Jacoby zu dem Berliner Sammellager in der Levetzowstraße begleitet. Samuel Jacoby war in Theresienstadt gestorben. Enkeltochter Merilyn besucht das Haus seit 2008 immer wieder. Enkeltochter Ruth erzählt in Briefen und Radiointerviews den heutigen Bewohner*innen von ihrer Kinderzeit im zweiten Stock. Jahr für Jahr tauchen nun neue Dokumente und Versatzstücke der Bewohnerbiographien auf. Dank des überlebenden Sohns von Kurt Messerschmidt, der die ersten Namen auf seiner Gedenktafel festhielt und dank heutiger Nachforschungen zeigt das Haus Gervinusstraße 20 von Jahr zu Jahr mehr von der vergessenen Geschichte seiner einstigen Bewohner*innen.

Texte, Fotos und Informationen:

© Dan Messerschmidt, Jack Weil, Eva Caemmerer, Merilyn Moos und Matthias Schirmer

 

 

Annedore und Julius Leber

Julius und Annedore Leber    (c) Annedore und Julius Leber Archiv

1937 wird der Sozialdemokrat und Reichstagsabgeordnete Julius Leber nach mehreren KZ-Aufenthalten seit seiner Verhaftung 1933 aus dem KZ Sachsenhausen entlassen. Freunde vermitteln ihn in die Schöneberger Kohlenhandlung „Bruno Mayer Nachf.“

Julius Leber  (c) Annedore und Julius Leber Archiv

1944 steht Julius Leber im Zentrum der Verschwörung gegen das NS-Regime. Seine Kohlenhandlung wird zu einem der Treffpunkte des Widerstandes, führende Köpfe des Kreisauer Kreises und des militärischen Widerstandes kommen hierher.  „Verschwörerbude“, nannte sie der spätere Bundespräsident Theodor Heuss nach dem Krieg. Bereits vor dem geplanten Attentat vom 20. Juli wird Leber von der Gestapo in der Kohlenhandlung verhaftet. Er wird am 5. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Annedore Leber (c) Annedore und Julius Leber Archiv

Annedore Leber sichert nach der Verhaftung ihres Mannes die wirtschaftliche Existenz der Familie. Mit ungeheurer Energie kämpft sie um die Freiheit ihres Mannes. Nach der erneuten Verhaftung Julius Lebers im Juli 1944 wird sie ebenfalls kurzzeitig in Haft genommen. Ihre Kinder kommen zwangsweise in eine fremde Familie. Nach ihrer Freilassung kann Annedore Leber ihren Mann vor seiner Hinrichtung noch mehrmals im Gefängnis besuchen.

 

Nach 1945 setzte sie sich leidenschaftlich dafür ein, dass die Ideen des Widerstandes nicht vergessen werden.  Als Politikerin in der SPD, als Mitherausgeberin der SPDnahen Zeitung „Telegraf“ und Herausgeberin ihrer eigenen Zeitschrift „Mosaik“, als Autorin, Journalistin und Verlegerin sind Frauen und Jugendliche ihre besondere Zielgruppe. Zugleich baut sie die im Krieg zerstörte Kohlenhandlung wieder auf, in deren Räumen auch ihr Verlag seinen Sitz findet. 1968 stirbt Annedore Leber und wird auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof beigesetzt.

Im Gebäude der ehemaligen Kohlenhandlung in der Torgauer Straße in Schöneberg soll ein Lern- und Gedenkort entstehen.                                            (c) Egon Zweigart

Familie Fiegel

Bernhard Fiegel, seine Mutter und ein Löwenbaby im Zoologischen Garten Berlin (c) Naomi u. Paul Fiegel, Sydney                                                  

Die Fiegels waren alteingesessene Charlottenburger. In der Mommsenstraße haben sie 25 Jahre lang gewohnt, zuletzt im Haus No. 6. Paul Fiegel war Inhaber einer Saatengroßhandlung, gegründet von seinem Vater Benno Fiegel. Am 1. Januar 1919 bekamen Erna und Paul Fiegel ihr erstes und einziges Kind, den Sohn Bernhard.

Bernd, wie er genannt wird, wird im August 1925 in der 19. Gemeindeschule Charlottenburg eingeschult. Er hat es nicht weit, muss nur um die Ecke in die Bleibtreustraße 43. Bis 1934 besucht er dort auch das weiterführende Kaiser Friedrich Gymnasium, die heutige Europaschule Joan Miró.

Erster Schulgang mit den Hausgeistern Anna und Elfriede, 1925 (Notiz auf der Rückseite) 
(c) Naomi und Paul Fiegel, Sydney

Diese Fotografie schickten Naomi und Paul Fiegel an uns, die wir heute in der Mommsenstraße 6 leben. Viele weitere Fotos, Dokumente, Briefe und ein Tagebuch ihres Vaters vertrauten sie uns an. Es war ein glücklicher Zufall, Naomi und Paul Fiegel in Sydney ausfindig gemacht zu haben. Plötzlich sehen wir Bilder von Menschen, die wir zuvor nur aus den Akten der Archive kannten. 

 

Ihr Großvater Paul Fiegel,  als Sohn von Benno und Minna Fiegel geb. Cohn am 12. November 1881 in Berlin geboren, heiratet am 26. April 1914 Erna Hirschfeld. Sie ist am 10. Juni 1893 in Leipzig geboren. 

 

1936 - im Jahr der Olympischen Spiele in Berlin - ziehen die Fiegels in eine neue Wohnung in die Mommsenstraße 6: eine schöne 7-Zimmerwohnung im Vorderhaus. In einer "Eidesstattlichen Erklärung für das Berliner Entschädigungsamt schreibt Erna Fiegel am 27. Januar 1961: "Anlässlich des Umzuges in die neue Wohnung hatten wir die gesamte Einrichtung von dem Architekten Max Lewy, Berlin-Zehlendorf West, Beerenstraße 20A bearbeiten lassen; Stoffe, Fussbodenbeläge und Vorhänge waren von der Firma Gerson, Berlin."

Als begeisterter Sportler besucht der 17jährige Bernd 1936 die Olympischen Spiele in Berlin. Seinem Tagebuch vertraut er am 1. August an: "Es ist für mich sehr aufregend. Das schreckliche Bewußtsein, im deutschen Sport vollkommen ausgeschaltet zu sein." 

Noch können Fiegels sich wohl ein Leben in Deutschland vorstellen.
Um diese Zeit entstand dieses Bild von Vater und Sohn. 

Doch schon am 1. Juli 1937 muss Paul Fiegel seine Firma unter dem Zwang der NS-Behörden verkaufen. Ab diesem Zeitpunkt ist er ohne Einkommen. Als Fiegels 1938 den Novemberpogromen ausgesetzt sind, entschließen sie sich, ihre Heimat zu verlassen. Bernhard geht im Juni 1938 nach Gouda in den Niederlanden. Dort arbeitet er in einer Staatlichen Prüfungsanstalt für keramische Erzeugnisse. Erna und Paul Fiegel buchen Schiffsbilletts für den Dampfer SLAMAT, der am 10. Juni 1939 von Rotterdam nach Colombo aufbricht. Mit dem Dampfer SRATHALLAN geht es von Colombo nach Sydney. Am 8. November 1939 kommen sie in Durban an. Bernhard landet an eben diesem Tag mit dem Flugzeug in Darwin. Gemeinsam beginnen sie ein neues Leben in Sydney. Es ist nicht einfach. Paul Fiegel arbeitet als Packer, um seine Familie zu ernähren. 

Am 1. Oktober 1943 tritt Bernhard Fiegel in die australische Armee ein. 

(c) Naomi und Paul Fiegel, Sydney

Fünf Monate nach Kriegsende erhält Bernhard Fiegel die australische Staatsbürgerschaft. In Ashfield, Sydney, eröffnet er 1946 ein Geschäft für Keramik. Seine Mutter unterstützt ihn im Geschäft. 

Die Geschwister Paul und Naomi Fiegel                           (c)Naomi und Paul Fiegel, Sydney

Bernhard Fiegels Kinder Naomi und Paul waren spontan von DENK MAL AM ORT begeistert und reisten aus Sydney nach Berlin, zusammen mit Mia Fiegel, der Tochter von Paul, um an ihren Vater bzw. Großvater, die Großeltern bzw. Urgrosseltern zu erinnern - in der Wohnung von Wolf-Rüdiger Baumann und Claudia Saam in der Mommsenstraße 6. 

Familie Isaacson

Abraham Isaacsohn, Justizrat in Berlin   (c) Bundesrechtsanwaltskammer

Der Justizrat Abraham Isaacsohn, genannt Albert, zieht mit seiner Frau Anna und seinem Sohn Franz Herbert 1916 in eine 6-Zimmer-Wohnung in der Mommsenstraße 6 in Charlottenburg. Hier leben sie 23 Jahre lang. Beim Kammergericht Berlin und im Preußischen Justizministerium hat Abraham Isaacsohn gearbeitet. Seit 1893 war er als Rechtsanwalt an allen drei Berliner Landgerichten zugelassen. Noch zur Kaiserzeit wurde er zum Notar ernannt. Seine Kanzlei befand sich in der Kaiser-Wilhelm-Straße 3. Auch als Librettist soll er unter dem Namen Albert Knaus bekannt gewesen sein.

In Brietzig (Pommern) wurde Abraham Isaacsohn am 30. Oktober 1866 geboren. Er heiratete die neun Jahre jüngere Anna Fanny Reine Ranschoff, die am 4. Dezember 1875 in Hannover zur Welt gekommen war. Ihr Sohn Franz Herbert Isaacsohn wurde am 31. Januar 1900 in Berlin geboren. Später studierte er Rechtswissenschaften und promovierte. Auch er war Rechtsanwalt am Kammergericht Berlin. Er wohnte 1939 – vor seiner Emigration nach New York – in der Knesebeckstraße 30.

Abraham und Anna Isaacsohn werden im September 1939 in ein „Judenhaus“ in der Gervinusstraße 24 umquartiert. Es ist wenig, was ihnen bleibt. Für 1 Zimmer müssen sie 50 RM im Monat bezahlen.

Für monatlich 150 RM kaufen sie sich „auf Lebenszeit“ einen Heimplatz im Altersghetto Theresienstadt. Zur „Durchschleusung“ müssen sie sich im Jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße einfinden, das jetzt ein Sammellager ist. Leiter des Lagers ist Kriminaloberassistent Walter Dobberke aus dem Judenreferat der Stapoleitstelle Berlin.

Den Akten des Oberfinanzpräsidenten ist zu entnehmen, dass die Gestapo gemäß der Verfügung vom 1. August 1942 ihr gesamtes Vermögen zu Gunsten des Deutschen Reiches eingezogen hat. Diese Verfügung wird den Eheleuten noch zu Lebzeiten mit einer Zustellungsurkunde in das Sammellager zugestellt.

Das Sammellager ist der letzte Ort, an dem sie sich aufhalten, bevor sie von der Gestapo zum Bahnhof Grunewald transportiert werden. Am 17. August 1942, einem Montag, stehen sie mit weiteren 995 jüdischen Berlinern – darunter auch ihre Nachbarin Clara Lehmann – am Güterbahnhof in Grunewald, um mit dem 1. großen Alterstransport I/46 nach Theresienstadt deportiert zu werden.

Die Namen von Abraham Isaacsohn mit der Kennkarten-Nr. A 368020 und Anna Isaacsohn finden sich auf der Transportliste 147 mit den Transportnummern 0 6871 und 0 6872.

Abraham Isaacsohn lebt nach der Ankunft im Lager noch 39 Tage. Am 25. September 1942 stirbt er. Die Ärztin Dr. Isa Herrmanns wird in das Zimmer Nr. 177 in Baracke IV gerufen. Sie beginnt mit der Leichenschau und trägt in die Todesfallanzeige, die die Nummer 218 erhält, als Todsursache Herzschwäche (Adynamia cordis) ein. Den Todeszeitpunkt legt sie auf 7:30 Uhr fest. Als behandelnde Ärztin nennt sie Dr. Helene Gutmann.

Am 6. November 1942 stirbt auch Anna Isaacsohn, nur 41 Tage nach ihrem Ehemann. Von den 997 Menschen, die mit dem 1. Alterstransport nach Theresienstadt deportiert wurden, haben nur 15 das Ghetto überlebt.

Zum Gedenken an Anna und Abraham Isaacsohn sowie an Margarete Bayer, die bei ihnen wohnte, wurden am 24. April 2014 Stolpersteine in das Pflaster vor dem Haus Mommsenstraße 6 eingelassen.

Dr. Dimitri Roman Stein

Dimitri R. Stein, Student, am Stechlinsee  (c) David Stein

Dimitri R. Stein wurde 1920 in eine säkulare russisch-jüdische Familie in St Petersburg geboren. Über Finnland floh die Familie 1920 nach Berlin. Den Wunsch, Journalist zu werden, gab Dimitri R. Stein auf und folgte dem Rat des Vaters, einen Beruf zu erlernen, den er auch in der Emigration ausüben könne. Als Staatenloser wurde er zum Studium an der TH Berlin zugelassen, seine Dissertation im Fachbereich Elektrotechnik wurde 1943 jedoch abgelehnt mit Hinweis auf  seine jüdischen Wurzeln. 

Kurze Zeit später musste er untertauchen und überlebte an verschiedenen Orten in Süddeutschland. 1946 emigrierte der Elektroingenieur in die USA, wo er schließlich eine Firma gründete, die sich auf Kabelfragen spezialisierte.

Im Jahr 2008 - Dimitri R. Stein ist bereits 88 Jahre alt - erhielt er in der TU Berlin nach Absolvierung einer mündlichen Prüfung den Titel Dr.-Ing.

Enkel Oliver Stein in der Ausstellung in der TU Berlin                                           (c) Jani Pietsch

Dr. Dimitri R. Stein, 2018                                                                                                                       (c) Jani Pietsch

Albert Einstein

(c) Gregorio Ortega Coto, Berlin


Ich lebe meine Tagträume in Musik (Albert Einstein)

Um Interessierten jenen Blick zu ermöglichen, den Professor Albert Einstein von 1917 bis 1932 aus dem Fenster hatte, öffnete Gregorio Ortega Coto seine Wohnung im 4. Stock der Haberlandstraße 8. 

Eine Annährung an das Genie, den Musiker und Visionär mit einer elektro-akustischen Komposition von Marion Fabian, der Violine von Claudia Teschner und dokumentarischem Material von Gregorio Ortega Coto.

Méa, Moritz und Theo Meyer

Jo Glanville auf der Terrasse der Lyckallee 30, 2018  (c) Jani Pietsch 

Méa, Moritz und Theo Meyer konnten nur zwei Jahre in ihrem Haus in  der Lyckallee im Berliner Westend verbringen. Entworfen und gebaut hat es der Berliner Architekt Fritz Marcus für sie – eine außergewöhnlich moderne Villa, angelehnt an den neuen Bauhaus Stil. Pamela Glanville, die Tochter von Meás Bruder Fritz Manasse, verlebte dort intensive Tage ihrer Kindheit.  Pamelas Tochter Jo Glanville ist es gelungen, die Adresse und das Haus ausfindig zu machen und schließlich über Akten, die in der Entschädigungsbehörde von Berlin verwahrt werden,  ein wenig Licht in die Zeit zu bringen, die der Familie verblieb.

Im Oktober 1933 fliehen die Meyers über die Schweiz nach Paris. Unmittelbar nach Kriegsbeginn werden Moritz und Theo von den französischen Behörden interniert. Es folgen Jahre unter falscher Identität in Vichy-Frankreich.

Polizeiliche Abmeldung der Familie Meyer aus Berlin    (c) Landesverwaltungsamt Berlin

Méa überlebt als einzige der kleinen Familie die Verfolgung. Ihr Sohn Theo ist 23, als er in Auschwitz ermordet wird; Méas Ehemann Moritz stirbt an den Folgen der Haft in den französischen Lagern. Méa schafft es, in die Schweiz zu flüchten. Ihrem Entschädigungsantrag wird von den deutschen Behörden erst nach 10 Jahren mühevoller Korrespondenz entsprochen. Sie verbringt ihr weiteres Leben in Paris.

Theo Meyer, 1924 (c)Jo Glanville, London

Die Dokumente, die Jo Glanville auf der Terrasse über dem Garten der Lyckallee ausstellte, zeigen das bürokratische Innenleben von etwas, das Reparation genannt wird – die Unzahl von Kategorien, unter denen ein Entschädigungsanspruch eingeordnet wurde, das schiere Ausmaß von Zeugenaussagen und eidesstattlichen Versicherungen, die für einen Antrag beigebracht werden mussten.  Méa Meyer musste jeden einzelnen Schritt in ihrem Leben und während der Flucht ihrer Familie vor den Nazis belegen: So musste sie zum Beispiel nachweisen, dass ihr Sohn Theo wirklich die Universität besuchte und dass die Lager, in denen ihr Mann in Frankreich interniert war, tatsächlich existierten. Vielleicht das schrecklichste Dokument im Entschädigungsantrag der Mutter für den Verlust ihres Sohnes: Fünf Deutsche Mark wurden ihr schließlich als Entschädigung für jeden einzelnen Tag von Theo in Auschwitz zugesprochen.

In den Akten finden sich Details über die Lebensumstände und Orte, an denen die Familie sich während des Krieges befand, insbesondere über die Verhaftung von Theo und den Tod von Moritz.

Die ausgestellten Dokumente umfassen auch die „Administration“ von Theos Deportation vom Sammel- und Durchgangslager Drancy nach Auschwitz: NS-Telegramme, die den Transport anfordern und anordnen, wie die Häftlinge zu transportieren sind. Diese Telegramme zeigen die bis ins kleinste Detail ausgefeilte Methodik, mit der die Nazis jeden einzelnen Transport planten und durchführten.

Fritz Marcus, der Architekt der Villa in der Lyckallee 30, verließ Deutschland ebenfalls im Jahr 1933. Er fand Zuflucht zuerst in Spanien, ging von dort nach London und unterrichtete an der  Central School of Arts and Crafts. In London gehörte Marcus einem Emigrantenkreis von deutsch-jüdischen Architekten an, unter ihnen Ernst Freund, der Sohn von Sigmund Freud.  

Claire und Harry Herzfeld

Ablehnungsbescheid des Entschädigungsamtes Berlin bezüglich des Antrags von Claire Herzfeld auf Entschädigung an Körper und Gesundheit: ABGELEHNT, 19. März 1970                  (c) Landesverwaltungsamt Berlin

 

Claire und Harry Herzfeld lebten in Berlin-Schöneberg, Schwäbische Straße 25, Seitenflügel, Parterre. Als sie 1939 nach Shanghai flüchteten, ließen sie alles zurück. 

Ihr späteres Leben in New York war gekennzeichnet von Krankheiten und Mittellosigkeit. Anfang der 1950er Jahre stellten sie in Berlin Anträge auf Entschädigung. Erst Jahre später und nach zermürbendem Rechtsstreit wurde Harry Herzfeld eine kleine Rente zugesprochen. 

Uti Hennecke und Wolfgang Bauernfeind öffneten ihre Wohnung und legten die Akten der Entschädigungsprozedur öffentlich aus.

Ermittlungsbericht für das Entschädigungsamt Berlin, Aussage der Hauswartin Frau Held über die früheren Vermögensverhältnisse von Harry Herzfeld,
27. September 1955     
(c) Landesverwaltungsamt Berlin

Benedict Lachmann

Benedict Lachmann, Schriftsteller und individualistischer Anarchist,  eröffnete am 11. März 1919 den Buchladen Bayerischer Platz. Der Buchladen war gleichzeitig Leihbücherei. Der Buchhändler Lachmann ist Herausgeber der Zeitschrift "Der individualistische Anarchist".  In Albert Einstein, der um die Ecke in der Haberlandstraße wohnt, findet er einen politischen Freund, denn auch Einstein ist Anhänger von Max Stirner (1806-1856), dem Junghegelianer und Begründer des "Individualistischen Anarchismus". 
"Das Ziel des Anarchismus ist Freiheit, d.h. der Zustand der Abwesenheit jeder aggressiven Gewalt und jedes aggressiven Zwanges. Der Anarchist erwartet keine "Veredlung" der Menschen. Er hat erkannt, dass die Grundlage aller menschlichen Handlungen der Egoismus ist. Er empfiehlt den Einzelnen, dass sie sich nach Beseitigung aller Monopole und Privilegien einschließlich des Staates nach ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen, so weit sie dies für richtig halten, zusammenschließen unter Bedingungen, die sie selbst bestimmen. Dass an die Stelle der Monopole die freieste Konkurrenz auf allen Gebieten tritt, die allein es jedem Individuum ermöglicht, das Produkt seiner persönlichen Leistung im freien Verkehr  voll zu verwerten. Sind alle Monopole und Privilegien beseitigt, so bleibt vom Staate übrig, was er eigentlich sein sollte: eine Vereinigung zur Verteidigung von Leben, Freiheit und Besitz des Einzelnen. Aber selbst dieser anzugehören, kann niemand gezwungen werden, der diesen Schutz nicht wünscht."

Der individualistische Anarchist, 1. Jg., Heft 2, 16. April 1919, Vorwort des Herausgebers Benedict Lachmann

Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler, die seit 1825 bestehende  Standesvertretung der Verlage und Buchhandlungen mit Sitz in Leipzig, erklärt unmittelbar nach der Bücherverbrennung am 11. Mai 1933, dass Autoren wie Lion Feuchtwanger, Alfred Kerr, Egon Erwin Kisch, Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky und Arnold Zweig "für das deutsche Ansehen als schädigend zu erachten sind. Der Vorstand erwartet, dass der Buchhandel die Werke dieser Schriftsteller nicht weiter verbreitet." Als der Verleger Samuel Fischer 1934 in Berlin stirbt, ist auf seiner Beerdigung nicht ein offizieller Vertreter des Börsenvereins anwesend. 

Unter dem zunehmenden Druck der NS-Behörden gegenüber jüdischen Buchhändlern und Verlegern muss Benedict Lachmann den Buchladen im April 1937  an seinen Angestellten Paul Behr verkaufen. 
Im Verlag Löwe erscheint 1939 sein letztes Buch: Der Bürgerkönig. Frankreich zwischen den Revolutionen. 1830-1848.

Am 18. Oktober 1941 wird der 63jährige Benedict Lachmann mit dem ersten Transport von Berlin in das Ghetto Litzmannstadt deportiert. Der  4. Dezember 1941 wird als sein Todestag festgehalten. 

Christiane Fritsch-Weith, die heutige Buchhändlerin des Buchladens Bayerischer Platz, erinnerte mit einer Lesung und einem Gespräch an den Gründer Benedict Lachmann.

Die Familien Kastan, Stargardt, Simon und Kaufmann

Max und Else Simon geb. Stargardt (links), mit ihrer Tochter Helga und dem Schwiegersohn Hugo Kaufmann (rechts). In der Mitte Elses Schwester Frida mit ihrem Mann Willi Kastan.
(c) Claudia Samter


Hugo Kaufmann gelang noch im März 1941 die Flucht in die USA. Max Simon flüchtete am 15. Oktober 1941 in den Tod. Else Simon und ihre Tochter Helga wurden zusammen mit Helgas vierjähriger Tochter Yvonne Luise am 3. Februar 1943 aus der Rosenheimer Straße 40 nach Auschwitz deportiert.

 

Claudia Samter lebt in Mar del Plata. Sie hat DENK MAL AM ORT im vergangenen Sommer gefunden, als sie einen Artikel von Susana Fernández Molina über DMAO in der spanischen Zeitung El País las. Es brauchte noch einige Wochen und Mails, bis Claudia und wir uns bewusst wurden, dass es drei Mitglieder ihrer Familie waren, die in die Rosenheimer Straße 40 zwangseinquartiert und von dort nach Auschwitz deportiert wurden: Else Simon (Claudias Großtante), Helga Kaufmann (Claudias Tante) und Yvonne Luise (Claudias Cousine). Seit 2016 erinnert Marie Rolshoven an sie in ihrer Wohnung, mit Dokumenten aus Berliner Archiven, es schien kein einziges Bild mehr zu geben. Bis jetzt. Bis Claudia Samter uns fand und ihr Fotoalbum öffnete. Danke, Claudia, für dein Vertrauen.

Danke, Susana Fernández Molina, ohne deinen Artikel und ohne  dein Projekt Citycise  würde es diese Begegnung nicht geben.

 

Claudias Mutter, Ursula Samter geb. Kastan, war ein junges Mädchen, als sie 1938 mit ihrer Pfadfindergruppe nach Argentinien entkam. 
Claudia Samter reiste aus Mar del Plata/Argentinien nach Berlin und erinnerte in der Wohnung in der Rosenheimer Straße an die verlorenen Mitglieder ihrer Familie sowie die abenteuerliche Fluchtgeschichte ihrer Mutter.
Eine außerordentliche Begegnung fand in Berlin statt: Claudia Samter traf hier mit Ulf Petterson und Kristoffer Hagberg zusammen, die aus Helsingborg in Schweden zu DENK MAL AM ORT angereist waren. Ulf und Kristoffer sind der Sohn bzw. Enkel einer Schwester 
von Claudia Samters Großmutter, die sich mit einem verzweifelten Sprung aus dem LKW, der sie aus dem besetzten Dänemark deportieren sollte, rettete. Dänische Fischer halfen dem 16jährigen Mädchen nach Schweden.

Die Schwestern Frida Kastan und Else Simon mit ihren Töchtern Ursula Kastan und Helga Kaufmann in Berlin.                                                       (c) Claudia Samter, Mar del Plata/Argentinien

Claudia Samter (Mitte) mit Kristoffer Hagberg, Ulf Petterson und der Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg, Angelika Schöttler, in der Wohnung Rosenheimer Straße.                                                                                                                                                                      (c) Jani Pietsch

Familie Landsberger

Johanna und Richard Landsberger auf ihrem Balkon, 1934                                                (c) Kurt Landsberger

Als Kurt Landsberger 2011 dieses Foto schickt, ist sofort klar, in welcher Etage seine Familie in der Apostel-Paulus-Str. 26 gewohnt hat. Jeder Balkon ist durch seine besondere Gestaltung eindeutig zuzuordnen. 
1933 ist die Familie Landsberger aus der Schöneberger Crellestraße in die Apostel-Paulus-Straße gezogen. Anfangs besuchen die drei Kinder Kurt, Inge und Gerd die umliegenden Schulen, aber die politischen Verhältnisse ändern sich bald. Am 9. November 1938 wird Richard Landsberger hier im Haus von der Gestapo verhaftet. Dank seines noch gültigen Touristenvisums für die USA kommt er Ende Dezember aus dem KZ Sachsenhausen frei, mit der Auflage, Deutschland sofort zu verlassen. Er flieht Anfang Januar 1939 in die USA. Zuvor macht man noch ein Familienfoto. Man weiß ja nicht, ob man sich wirklich wiedersieht, aber man hofft es. Ein Jahr später, im Februar 1940, folgt seine Frau Johanna Landsberger mit den Kindern. Ihre Visa für die 
USA sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Was für ein Glück. Zurück in der Wohnung bleibt Richards Bruder Franz Landsberger. Nur kurze Zeit später steht erneut die Gestapo vor der Tür, um den 17-jährigen Kurt abzuholen, wie Franz seinem Bruder Richard in New York mitteilt. Nur gut, dass Kurt da schon auf dem Weg in die USA ist. Franz Landsberger selbst kann nicht mehr fliehen. Er wird im September 1942 nach Raasiku deportiert und dort ermordet.

Gedenktafel Apostel-Paulus-Straße 26 in Berlin-Schöneberg, 2012               (c)Gabrielle Pfaff, Berlin

Eva Levi geb. Wolffheim

Eva Wolffheim, erster Schultag, Berlin 1933                              (c)Karen Levi, Rockville, Maryland/USA

Von 1932 bis 1939 lebt Eva Wolffheim mit ihren Eltern und dem fünf Jahre älteren Bruder Günther in der Flotowstraße in Berlin-Tiergarten. Bei ihrer Einschulung 1933 strahlt sie. Drei Jahre später wird sie von der öffentlichen Schule verwiesen. Ein anderes Foto zeigt Eva im Tiergarten, ihrem Lieblingsspielplatz, den sie schon bald nicht mehr betreten darf. Sie ist 11 Jahre alt, als die Familie nach Shanghai flüchtet.

Eva Wolffheim im Berliner Tiergarten                                                                         (c) Karen Levi

Evas Töchter Karen und Connie Levi kamen aus den USA nach Berlin, um in der ehemaligen Wohnung der Wolffheims in der Flotowstraße an ihre Familie zu erinnern. Karen Levi aus Rockville/Maryland las aus ihrem Buch "Love and Luck. A young Woman's Journey from Berlin to Shanghai to  San Francisco". Und beide sprachen mit den heutigen Bewohnern, die ihre Wohnung für Karen, ihre Schwester Connie Levi und interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer öffneten.

Karen Levi (rechts) liest im Berliner Zimmer der ehemaligen Wohnung ihrer Mutter.                                                                                                                                                                        (c) Andreas Morell

Die Schwestern Lily und Elsa Katz

Lily Katz als junges Mädchen in Hannover                                                     (c)Sylvia Paskin, London

Ich wurde 1944 in eine Flüchtlingsfamilie hineingeboren – mein Vater Lothar stammt aus Hannover, meine Mutter Mimi aus Wien.

Wir lebten in Wembley, einem Vorort von London. Die Außenwelt hieß britisches Sparprogramm, Lebensmittelrationierung, Smog, Empire Day Feierlichkeiten in der Schule. Im Hausinnern empfing dich Mtteleuropa. Die Möbel meiner extravaganten Großmutter Lily verliehen jedem Zimmer eine besondere Atmosphäre: An Sonnabenden buk meine Mutter Wiener Spezialitäten: Linzertorte, Apfelstrudel, Spitzbuben, Sachertorte, alles natürlich mit Schlagsahne. Am Sonntagvormittag grübelte mein Vater über dem Schachbrett, am Nachmittag erschienen die Freunde meiner Eltern zum Tee – es waren Deutsche, Österreicher, Ungarn, Tschechen, allesamt Kontinentaleuropäer. Deutsch lernte ich so wie durch Osmose. 

Unvergesslich ist für mich meine Angst vor einem riesenhaften schwarzen Möbel aus Japan, das unseren Flur bis zur Decke verdunkelte. In das Holz dieses Schranks waren Adler, Drachen und Affen geschnitzt, für mich waren es Monster, die mich in meinen Träumen verfolgten. Das Innere des Schrank barg magische Schätze: böhmisches Kristall, Dresdener Porzellan, Damasttischtücher in zarten Rosétönen mit eingesticktem Monogramm und ein schweres silbernes Kaffeeservice mit runder Form. Der Schrank mit seiner Magie, Perserteppiche, Meissener Porzellanfiguren, Gemälde – all das gehörte einmal meiner Großmutter. Mein Vater war ihr einziges Kind aus ihrer Ehe mit Ludwig Sauer.

 

Lily Knips mit ihrem dreijährigen Sohn Lothar  (c) Sylvia Paskin

Lily wurde Hannover geboren, aber sie lebte in Berlin. Nach der Scheidung von Ludwig Sauer, ihrem ersten Ehemann, heiratete sie Franz Knips. Franz Knips, der nicht jüdisch war, verstarb bereits 1935. Damals lebte Lily in der Freiherr-vom-Stein Straße 8 in Schöneberg. Aus dieser Wohnung zog sie in die Wielandstraße 30 in Charlottenburg.

Mit einer gewissen Vorahnung schickten Lily und Ludwig ihren Sohn bereits 1933 nach London, und er begann ein Studium an der London School of Economics. Dort lernte er meine Mutter kennen, sie heirateten und begannen ein gemeinsames Leben in London. 

Als die Nazis sich nicht mehr mit Deutschland begnügten, sondern nach Europa griffen, fürchtete Lily immer mehr um ihr Leben.  Meinem Vater gelang es 1939, sie aus Berlin heraus und nach England zu holen.

In Berlin hatte Lily ein sozial und kulturell reiches Leben geführt – jetzt war sie plötzlich nurmehr ein Flüchtling im kriegsgeschüttelten grauen England, gestrandet in einer nasskalten Wohnung, in die sie sich mit anderen Untermietern teilen musste, und sie bemühte sich, den Herausforderungen einer für sie fremden Kultur standzuhalten, wie so viele andere damals.

Lily Knips geb. Katz (links)                          (c) Sylvia Paskin, London

Doch Lily erkrankte an einer Depression. Eine unglückliche und tragische Liebesbeziehung kam hinzu.  Während ihrer Fluchtvorbereitungen in Berlin hatte sie einen Mann kennen gelernt. Josef Jakobs handelte mit gefälschten Pässen, die er verfolgten Juden verkaufte. Er selbst war kein Jude. Lily und Josef Jakobs verliebten sich ineinander und begannen eine Liebesbeziehung, die abrupt endete, als die Gestapo ihn aufspürte, verhaftete und in das KZ Sachsenhausen verschleppte. Der ihm von der Gestapo angebotene Deal, als Spion für die Abwehr tätig zu werden, schien seine einzige Überlebenschance. Von englischem Boden aus sollte er Wettermeldungen für die Luftwaffe ins Deutsche Reich funken.

Mit einem Fallschirm wurde er im Januar 1941 über England abgeworfen, brach sich beim Aufprall den Knöchel und wurde auf der Stelle von der British Home Guard festgenommen.

Ein Zettel mit Lilys Name und Adresse wurde in seiner Tasche gefunden. Ob er wirklich vorhatte, als Spion für die Deutschen zu arbeiten? Hatte er Lily mit hineinziehen wollen? Oder wollte er nach Lily suchen, damit sie ihn versteckte?

Als ehemaliger Soldat der Wehrmacht wurde Josef Jakobs inhaftiert, verhört und vor Gericht gestellt, bevor er im Tower von London erschossen wurde. Die Ironie des Schicksals bescherte ihm eine gewisse Bekanntheit: Josef Jakobs ist der letzte Häftling, der im Tower von London erschossen wurde.

Sein gewaltsamer Tod und ihr eigenes Leben als Flüchtling waren zu viel für Lily.  Mit Gas setzte sie ihrem Leben 1943 ein Ende. Lily wurde nur 52 Jahre alt. Mein ebenso strahlender wie verstörter Vater hat sich von diesem Schicksalsschlag niemals erholt.

Elsa Katz als junges Mädchen, Hannover                                                    (c)Sylvia Paskin, London


Lily besaß eine Schwester: Elsa,  geboren 1890. Sie verheiratete sich mit Alfons Majewski, ließ sich aber später von ihm scheiden. Elsa war ausgebildete Krankenschwester,  doch die Nazis verboten ihr die Ausübung ihres Berufes. Am Nikolsburger Platz 4 wohnte sie in einem Haus, in dem außer ihr noch zehn andere jüdische Mieter lebten. 1940 wurde sie aus diesem Haus vertrieben und zwangsweise in ein sog. Judenhaus in der Holsteinischen Straße 9 eingewiesen. Am 13. Juni 1942 wurde sie von Gleis 13 vom Bahnhof Grunewald nach Sobibor deportiert und dort unmittelbar nach der Ankunft ermordet.

Das Mietshaus am Nikolsburger Platz 4 wurde von Bomben vollkommen zerstört. An seiner Stelle befindet sich heute der Spielplatz der benachbarten Cecilien Grundschule. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern legte der Künstler Gunter Demnig Stolpersteine für jene elf Menschen, die aus diesem Haus deportiert wurden. Jedes Jahr am 9. November legen die Schülerinnen und Schüler Rosen für die Ermordeten auf die Stolpersteine und zünden Lichter an.

Nachdem Elsa deportiert wurde, verkaufte der Vermieter ihre zwei Sofas mit Sofakissen für 10 Reichsmark, mehr Besitz war ihr nicht geblieben. Im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam liegt eine Akte, in der es heißt, „die Jüdin Elsa Majewski schuldet dem Deutschen Reich eine Steuer in Höhe von 90 Reichsmark“.

 

Das Zuhause meiner Kindheit besaß wunderschöne objets d’art und herrliche Möbel, und die Räume füllten sich mit dem Lachen unserer Gäste. Waren wir allein, spiegelten sie die Schatten der Vergangenheit, eine ungewisse Schuld und die unermesslichen Lücken, die sich nie mehr schließen würden.

Der tragischen Familiengeschichte von Lily und Elsa vermochte niemand von uns zu entkommen, auch nicht dem Wissen über das, was meinen Großeltern in Wien angetan wurde. 

Sylvia Paskin, London