FAMILIE EBE

In den Räumen der heutigen Weinstube im Nordend wohnte und betrieb die  Familie Ebe den Lederwarenladen Ebe. Eine Erinnerung an die Familie Ebe von Dr.Hanne Straube.

Familie Ebe vor ihrem Geschäft, ca. 1923

 

„Wir sind nicht da, um zu verschwinden“ - Henry Rosenthal und die Familie Ebe                                                                                      Als ich am 17. Mai 2018 gerade die Haustüre schließen will, klingelt mein Telefon: „Hier ist Henry Rosenthal aus Paris. Wir haben das Flugzeug verpasst, aber wir kommen mit dem nächsten.“ Es ist das erste Mal, dass Henry mich anruft. Meine Nummer hat er von seiner Tochter Olivia Rosenthal, einer französischen Schriftstellerin, die ich 2017 während der Frankfurter Buchmesse („Gastland Frankreich“) kennengelernt habe. Wir unterhielten uns damals auf Englisch. Dass ihr Vater fliessend Deutsch spricht, überrascht mich. - Ich verspreche Henry, dass wir mit der Stolpersteine-Legung auf ihn und seine Frau Monique warten.

An diesem Donnerstag sollen um 16.15 Uhr vor der „Weinstube im Nordend“ in Frankfurt „Stolpersteine“ für Abraham und Selda Ebe und ihre Kinder Rosa, Leo und Esther verlegt werden. Die Familie Ebe wohnte bis 1931/32 im Haus und wurde am 29. Oktober 1939 im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ aus Frankfurt nach Polen abgeschoben.17.000 Juden mit polnischem Paß wurden in dieser „Nacht- und Nebelaktion“ aus dem Reich ausgewiesen.

            Dass Henry Rosenthal, Enkel von Abraham und Selda Ebe, Sohn der ältesten Tochter Regina, der Großmutter von Olivia, kommen würde, hatte Olivia Rosenthal mir geschrieben. Ihr Vater, der als Hermann geborene Henry, kam am 29.10.1930 in Frankfurt zur Welt. Als seine Eltern nach der Machtergreifung Hitlers im Mai 1933 Deutschland fluchtartig Richtung Frankreich verlassen, ist er zweieinhalb Jahre alt.

             Nur durch Zufall erfahre ich von seinen Großeltern, die in der Eckenheimer Landstraße 84 als Inhaber von „Lederwaren A. Ebe“ lebten und arbeiteten. Ein Gast der Weinstube, der im Hessischen Rundfunk arbeitet, hatte auf einem Foto, das die Schriftstellerin Olivia Rosenthal aufgrund einer Recherche zu ihren Büchern dorthin schickte, die Eingangstür zur Weinstube erkannt. Auf dem circa 1923 aufgenommenen Foto sehen wir acht Personen: die Eltern (Abraham und Selda Ebe), ihre fünf Kinder (Regina,  Rosa, Leo, Mary und die kleine Esther) und eine noch unbekannte Verwandte. Als der HR-Redakteur das Interview der USC Shoah Foundation mit Esther Clifford, geborene Ebe, dem jüngsten Kind, erwähnt, will ich mehr über unsere „Vormieter“ wissen. Nachdem ich das Interview hörte, las ich die Akten mit den Entschädigungsanträgen im Hessischen Staatsarchiv in Wiesbaden. Meine Recherche schickte ich an Olivia, die sie an ihren Vater Henry und an den in New York lebenden Sohn von Esther Allen Clifford weiterleitete. Mit ihrem Einverständnis stellten wir das Foto ins Fenster der Weinstube. Ein Freund, der Journalist Kamil Taylan, stellt meine Texte unter https://kamiltaylan.blog/de/Das Schicksal der Familie Ebe aus Frankfurt. Teil I. und Teil II. ins Internet.

Parallel dazu beantragten Doris, Hans und ich – wir sind die gemeinsamen Betreiber der Weinstube - die Verlegung von Stolpersteinen für die Familie. Am 17. Mai 2018  kommen nun der Künstler Gunter Demnig und Hartmut Schmidt, der Vorsitzender der Frankfurter Initiative „Stolpersteine“, sowie Verwandte, Freunde und Nachbarn. Leider können weder Olivia Rosenthal, Professorin für Kreatives Schreiben in Paris, noch ihr Großcousin Allen Clifford aus New York, zu diesem Termin kommen.

            Da an den drei Tagen im Mai 2018 insgesamt 98 Stolpersteine an 42 Orten in Frankfurt verlegt werden, existiert ein strenger Zeitplan. Als Henry und Monique Rosenthal wohlbehalten vom Flughafen vorfahren, sind die Steine für Familie Ebe vor der Weinstube bereits verlegt. Zahlreiche Freunde warten jedoch auf ihre Begrüßung.

Henry und Monique Rosenthal

Von Anfang an ist unsere Beziehung herzlich. Zusammen mit den Rosenthals erreichen wir rechtzeitig die Willkommens-Veranstaltung im Emma und Henry Budge Heim im Frankfurter Stadtteil Seckbach. Die circa 180 Personen, die hier anlässlich der Stolpersteine-Legung versammelt sind, werden mit Ansprachen, Speisen, Getränken und Musik empfangen. Wir sitzen mit dem 87jährigen Henry und seiner Frau Monique zusammen. Henry und Monique haben sich in Paris kennengelernt. Er arbeitete als Ingenieur und sie als Spanischlehrerin. Monique hat sephardische Vorfahren, die im 15. Jahrhundert aus Spanien ins Osmanische Reich geflüchtet sind. Nebenbei erwähnt Henry, dass sie zwei Töchter gehabt haben: Olivias Schwester habe sich das Leben genommen.  Ihre Großmutter Regina habe nicht gerne über Frankfurt gesprochen, erzählte mir Olivia. In ihrem Buch  über Alois Alzheimer mit dem Titel "Wir sind nicht da, um zu verschwinden" (2017) schreibt sie auf Seite 127: "Ich werde nicht nach Frankfurt auf Spurensuche nach meinem Großvater gehen."                                                                                        

            Wir verschieben belastende Gespräche auf die nächsten Tage. Henry wird sich für die Aussagen seiner Mutter Regina und ihrer Schwester Esther interessieren, die ich in Wiesbaden im Hessischen Hauptstaatsarchiv in den Akten HHStAW 518, 55556-9 gelesen habe. Als Kind ist er mit all diesen schrecklichen Erlebnissen aufgewachsen. - Er wiederum hat mir Fotos seiner Verwandten mitgebracht.

 

Die Antragstellung auf Entschädigung

 

Die Schwestern Regina, Mary und Esther entschließen sich im Juli 1957 um die Anerkennung als Leidtragende des Unrechts zu kämpfen, das ihren Eltern und Geschwistern angetan wurde. Anlass dafür war die Verabschiedung des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung (Kurztitel: Bundesentschädigungsgesetz, Abkürzung: BEG),  die am 29. Juni 1956 rückwirkend zum 1. Oktober 1953 in der Bundesrepublik erfolgte, nachdem die ursprüngliche Vorlage vom 18. September 1953 keine Berücksichtigung gefunden hatte.  Das Gesetz versteht sich als Teil der deutschen Wiedergutmachungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg und sollte eine Möglichkeit bieten, Personen, die während der Zeit des Nationalsozialismus aus politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und dadurch Schäden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum oder Vermögen sowie im beruflichen oder wirtschaftlichen Fortkommen erlitten haben, eine finanzielle Entschädigung zu gewähren.           

            Nicht alle Geschädigten des NS-Regimes nehmen die Entschädigungsleistungen dieses Gesetzes in Anspruch. Viele unterlassen die Antragstellung aus Angst, durch das Verfahren Erinnerungen an die erlittenen Qualen erneut durchleben zu müssen. Andere befürchten den Kontakt zu deutschen Behörden, ihren ehemaligen Verfolgern.

Stellen wir uns die Schwestern zu jener Zeit vor. Mary und Esther leben in New York/ USA, die älteste Schwester Regina in Paris/Frankreich. Lange plagte sie die Ungewissheit, was mit den Eltern und Geschwistern geschehen ist. Mehr und mehr sickern Nachrichten über die Gräueltaten während der zwölfjährigen NS-Herrschaft zu ihnen durch. Allmählich müssen sie begreifen, dass ihre Angehörigen tot sind. Vielleicht haben sie erfahren, dass auch viele ihrer Hannoveraner Verwandten während der „Polenaktion“ nach Zbąszyń /Bentschen ausgewiesen wurden, in einem Internierungslager inhaftiert und später ins Warschauer Ghetto deportiert wurden. Darunter ist – so erfährt man heute aus den Deportationslisten - Bernhard Ebe (geb. am 29.08.1926 in Hannover), Icek Ebe (geb. am 02.10.1890 in Warschau), Leo Ebe (geb. am 23.06.1925 in Hannover), Nelli Ebe (geb. am  01. 08.1931 in Hannover) und Sara Ebe, geb. Landmann (geb. am 20.06.1902 in Tarnow). Der Todeszeitpunkt aller ist unbekannt. Die am 04.01.1920 geborene Verwandte Hanni Ebe, als deren Aufenthaltsort während des Krieges das in Bayern befindliche Konzentrationslager Flossenbürg genannt wird, gilt als verschollen. Auch viele der in Polen lebenden Verwandten wurden sicher umgebracht. Für Esther entsteht die Gewissheit, dass ihre Freundin Hertha Hahn (geb. 09.03.1922 in Frankfurt/Main), mit deren Visum sie selbst sich nach England hat retten können, mit ihrer Mutter Recha (Rosa) (geb. Hamburger am 17.10.1892 in Langenselbold) und ihrem Vater Gustav Hahn (geb. 11.09.1886 in Frankfurt/Main), bei der ersten großen Deportation nach Litzmannstadt (Lodz) am 20.10.1941 in das Ghetto deportiert und umgebracht wurde. Auch wird sie erfahren haben, dass ihre Schwiegereltern Hedwig Kleczewski (geb. am 13.12.1890 Fleischmann in Berlin) und Markus (Max) Kleczewski (geb. 29.11.1885 in Thorn (Toruń) /Polen) am 13. Januar 1942 von der Sammelstelle Levetzowstraße in Berlin ins Ghetto nach Riga deportiert und umgebracht wurden. (In den Gedenkbüchern Riga gibt es darüber hinaus noch acht weitere Personen mit dem Nachnamen Kleczewski.) (Auskunft über Deportatiosnlisten: Hartmut Schmidt, Vorsitzender der Frankfurter Initiative Stolpersteine.)

Entsprechend ist 1957 die psychische und physische Verfassung der Schwestern. Esther (geb. am 05.12.1920) lebt von den Ereignissen gezeichnet und in großer finanzieller Not in New York. Sie hatte überlebt, da sie als Jüngste  keinen polnischen Pass besaß und an der Grenze zu Polen im Oktober 1939 ausgesondert wurde. Sie konnte nach Frankfurt zurückkehren, später nach England flüchten. Dort heiratet sie Rudi Kleczewski, einen Berliner. Umbenannt in Clifford, emigrieren sie 1948 in die USA. Esther und Rudi leben unter dem Existenzminimum. Das Deutsche Generalkonsulat in New York bescheinigt ihre Bedürftigkeit. - Die Lage Reginas (geb. am 13.12.1908), die seit 1933 im Untergrund in Frankreich lebte, ist nicht besser. Sie erklärt in ihrem Entschädigungsantrag vom 23.07.1957, dass sie unter den schrecklichen Bedingungen während des Krieges ihr Leben lang gelitten hat. -  Über Marys (geb. am 15.04.1911) Befindlichkeit finde ich nichts. Mit ihrem Ehemann Arthur Halberstadt konnte sie von München nach Shanghai fliehen und reparierte dort, so erzählt Henry Rosenthal mir im Mai 2018, als Absolventin der Kunstschule in Offenbach, dem deutschen Konsul die Teppiche. 1947 wandern sie in die USA ein.                                                                                                         

            Für die Anträge auf Entschädigung müssen die erforderlichen Unterlagen bis zum 01. Oktober 1957 vorliegen, vieles muss notariell übersetzt und beglaubigt werden. Rechtsanwälte aus New York, Paris, Frankfurt und Wiesbaden arbeiten für die Schwestern. Verlangt werden u.a. Geburts- und Heiratsurkunden, Zeugnisse, Schul-, Ausbildungs-, Wohn- und Einkommensnachweise. Vielfach sind Ämter und Archive im Laufe des Krieges durch Bomben zerstört worden. Bescheinigungen über die Abschiebung der Familienmitglieder nach Polen, Belege des Zeitpunkts ihrer Freiheitsberaubung und ihres Todeszeitpunkts, aber auch Erbscheine von ihnen sollen erbracht werden. Allein dem Antrag für Abraham Ebe mit spezifizierten Einzelanträgen - dunkelgelb zum „Schaden an Eigentum“,  hellgelb zum „Schaden an Freiheit“, grün zum „Schaden im beruflichen Fortkommen“ und rosa zum „Schaden an Leben“ - sind 14 Anlagen beigefügt.

Die Antragstellung ist für die Schwestern kaum zu bewältigen und emotional sehr belastend. Zunächst übernimmt Esther mit Einwilligung der Schwestern die Antragstellung für alle Angehörigen. Der Antrag datiert vom 08. Juli 1957. Parallel dazu stellen Esther und Regina  eigene Anträge auf  Entschädigung für das von ihnen erlittene Leid; Regina auch für Henry. Die Auseinandersetzungen mit den deutschen Behörden werden sich über Jahre hinziehen. Einerseits werden die Schwestern ermahnt, erforderliche Dokumente schneller zu besorgen, andererseits liegen behördliche Fehler und Verschleppungen vor. Die Nachfragen der Behörde beziehen sich auf Eltern und Geschwister, es werden Zeugnisse der "Verschollenen" oder der "vermutlich in der Deportation Verstorbenen" verlangt und Zeugenaussagen früherer Lehrkräfte. In einem Amtsschreiben vom 04.09.1959 heißt es: „Ich bitte ferner darauf zu achten, dass in der Erbscheinverhandlung angegeben und eidesstattlich versichert wird, ob die beiden deportierten Geschwister verheiratet waren und Kinder hatten.“ Esther schickt am 24.09.1959 die Geburtsurkunde von Rosa Ebe – ausgestellt am 26.11.1958 vom Standesamt Offenbach a. M. - und die von Leibu (Leo) Ebe - ausgestellt am 26.11.1958 vom Standesamt Hannover -, sowie eine "notariell und konsularisch beglaubigte eidesstattliche Versicherung, dass (...) beide Geschwister unverheiratet waren."

Viele Einzelbestimmungen der Behörden machen die Antragstellung kompliziert. Nach     den Bescheiden zu Abraham und Selda Ebe gegen Ende 1961 merken die Schwestern, dass der von ihnen gestellte Antrag nur für die Eltern bearbeitet wurde nicht jedoch für die Geschwister. Sie fordern eine Wiedereinsetzung des Antrags für Rosa und Leo. Die Begründung der Ablehnung der Entschädigungsbehörde vom 15.03.63 lautet, sie hätten gesonderte Anträge für sie stellen müssen. Es heißt zu Leo Ebe: "Der Antrag auf Gewährung von Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz ist nicht rechtzeitig – nämlich bis zum 01.04.1958 – eingegangen. Die bloße Erwähnung des Schicksals des Erblassers (...) ist kein rechtswirksamer Antrag auf Gewährung von Entschädigungsleistungen." Es  heisst dort weiterhin: "Nachdem die Antragstellerin bereits 1957 die Anträge auf Gewährung von Entschädigungsleistungen nach ihren Eltern eingebracht hat, steht fest, dass sie schon vor Ablauf der Antragsfrist mit Entschädigungssachen befasst war. Sie hätte sich daher in jener Zeit bei der Entschädigungsbehörde darüber erkundigen müssen, ob sie für ihren Bruder nicht einen gesonderten Entschädigungsantrag einbringen muss. Dass eine solche Anfrage naheliegt, ergibt sich insbesondere daraus, dass die Antragstellerin für die Eltern zwei getrennt Anträge eingebracht hat."

            Nachdem sie seit dem 08. Juli 1957 in ständigem Kontakt mit den Behörden waren, ist dieser Bescheid eine große Enttäuschung! Hätte dies nicht früher mitgeteilt werden müssen?

 

Die Rückschau: Das Leben der Familie Ebe in Deutschland

 

Henrys Großeltern Abraham und Selda hatten 1907 in Warschau  geheiratet. Als erstes Kind kommt Henrys Mutter Regina 1908 zur Welt, 1911 folgt Mary. Um 1911 zieht die Familie wegen der Pogrome und der besseren Schulausbildung nach Deutschland. Rosa wird 1914 in Offenbach, Leo 1918 in Hannover und Esther 1920 in München geboren. Um 1921 ziehen sie nach Frankfurt.

            In der Eckenheimer Landstraße 84 in Frankfurt richtet Abraham Ebe sein Geschäft mit Werkstatt zur Herstellung und Reparatur für Lederwaren ein. Dies ist auf dem Foto, das Olivia Rosenthal dem Hessischen Rundfunk zukommen lässt, festgehalten. - Im Frankfurter Nordend leben sie in einem Viertel, in dem jüdische Mitbewohner die Infrastruktur mitprägen. In unmittelbarer Nähe des Ladens befindet sich in der Hebelstraße 14-16 das Philanthropin, eine jüdische Schule, die alle fünf Kinder besuchen. Die Synagogen in der Friedberger Anlage und am Börneplatz sind zu Fuß erreichbar. Bereits 1931/32 ziehen sie in eine kleinere Wohnung in die Lenau Straße 93, zuletzt sind sie in der Hanauer Landstraße 27 gemeldet. 

Nach Abschluss der Schule gehen die älteren Töchter Regina und Mary bald eigene Wege. Regina arbeitet als Sekretärin und Übersetzerin für Französisch und Englisch; Mary besucht vier Jahre die Hochschule für Kunstgewerbe in Offenbach. - 1929 heiratet Regina den Kaufmann Willy (Chil) Rosenthal, laut Reg. Präsidenten zu Hannover seit 1919 preußischer Staatsbürger. Regina und Willy sind zunächst in der Wohnung ihrer Schwiegereltern, dem Kaufmann Jakob David und seiner Frau Judith Maria Rosenthal in der Unterlindau 55 gemeldet. 1930 erfolgt dann Reginas Eintritt in das Geschäft ihres Mannes. Henry wird dort als Hermann geboren. Ab 1932 lebt die Familie in der Wittelsbacher Allee 66 in einer eigenen Wohnung. - Die zweitälteste Tochter Mary heiratet 1935 Arthur Halberstadt und zieht 1935 nach München.

Jakob David Rosenthal, Reginas Schwiegervater, hatte früh beschlossen, dass, wenn Hitler an die Macht käme, er mit seiner Familie Deutschland verlassen würde. Er handelte prompt. Von einem geschäftlichen Besuch in Frankreich im Mai 1933 kehrten sie nicht mehr nach Deutschland zurück. „Das Leben war nach der Machtergreifung 1933 vollkommen erschüttert“ schreibt Regina in ihrer eidesstattlichen Erklärung. Nach kurzen Aufenthalten in Straßburg und Saint-Dié lebten sie unter dem Namen „Robert“ in Domaize (Departement Puy-de-Dȏme, Region Auvergne-Rhȏne-Alpes in der Nähe von Clermont-Ferrand im Untergrund. Nachdem die Vichy-Regierung auch dort Jagd auf Juden machte, wurden sie – so heißt es in der eidesstattlichen Aussage von Willy Rosenthal am 21. Januar 1957 in Akte Regina Rosenthal HHStAW 518, 89033 - durch den katholischen Pfarrer von Domaize in dem Weiler Bertignac in einem Forsthaus versteckt, wo sie unter schlimmsten Bedingungen bis Mitte 1944 August überlebten. Willy schloss sich den Partisanen an. Hermann wurde als „Henri Robert" vom Pfarrer bei einem Bauern namens Guillaumont in Domaize untergebracht.  Als Dank wird heute, so erzählt mir Henry, an den katholischen Pfarrer in Yad Vashem/Israel erinnert.

Viele Juden versuchten nach der Machtübernahme Hitlers Deutschland zu verlassen. Auch die Familie Ebe in Frankfurt dachte an Emigration, denn ihr tägliches Leben erschwerte sich zunehmend. Ab 1936 wurde Abraham Ebe die jährlich einzuholende Erlaubnis verweigert, seinen Beruf als Sattler und Portofeuilleur auszuüben. Er durfe keine Lederwaren mehr herstellen und verkaufen. Der Familie fehlte es an Geld für Essen und Miete. Wegen der wachsenden Not verliessen die Kinder das Philanthropin, das letztlich 1942 durch die Nationalsozialisten geschlossen wurde. Leo begann eine kaufmännische Lehre, Esther fing bei einer jüdischen Hutmacherin auf der Zeil eine Lehre als Putzmacherin an.

             Am 29.10.1938 wurden die fünf noch in Frankfurt lebenden Mitglieder der Familie morgens um 5.00 Uhr von der SS abgeholt. Mit weiteren Juden und Jüdinnen wurden sie per Zug zur polnischen Grenze nach Zbąszyń /Bentschen geschickt. Zu diesem Zeitpunkt sind Abraham und Selda 54 Jahre, Rosa 24, Leo 20 und Esther 18 Jahre alt. An der Grenze wurde Esther von ihrer Familie getrennt. In ihrer eidesstattlichen Erklärung schreibt sie: "Da ich wegen Minderjährigkeit noch keinen Pass besass, wurde ich nicht über die Grenze gelassen und wieder nach Frankfurt zurückgeschickt.“ Dort fand sie die versiegelte Wohnung vor. Ihre älteste Schwester Regina war bereits 1933 mit ihrer Familie in Frankreich untergetaucht, Mary wartete mit ihrem Mann auf eine Passage nach Shanghai. Esther war auf sich alleine gestellt. Ihre letzte Adresse in Frankfurt war die Telemannstraße 20, wohl bei der Familie ihrer Freundin Hertha Hahn. Anfang 1939 kam sie mit dem bereits vorliegenden Visum dieser Freundin nach England. Ihre Eltern wollten auf ein Familienvisum warten. 1941 wurden alle deportiert. - In London lernte Esther Rudi Kleczewski aus Berlin kennen, der seit 1944 in der britischen Armee diente. Sie heirateten und nannten sich fortan Clifford.              

 

Die Belege für die Antragstellung zum 08. Juli 1957

 

 Am 18.01.1960 wird für die Bearbeitung die „Ausfertigung eines Erbscheines für Antragstellerinnen“ verlangt. "Dies ist ein "gemeinschaftlicher beschränkter Erbschein. - Nur gültig für das Entschädigungsverfahren"  heißt es in einem Schreiben vom Amtsgericht Wiesbaden.  Er ist nötig, damit der Anspruch auf Entschädigung auf ihre Erben übergehen kann, das heißt die oder der Verfolgte- der sogenannte Erblasser -  von ihren Kindern, den Antragstellerinnen, beerbt werden kann. 

            Zur Antragstellung müssen die Schwestern neben lebensgeschichtlichen Angaben, auch Belege über die Abschiebung der "verschollenen" Angehörigen und deren Verbleib finden. Nach der Ausweisung nach Polen bestanden zunächst noch Kontakte zwischen den Familien. Es handelte sich durch das Rote Kreuz vermittelte Kurznachrichten: "Nach einem kurzen Aufenthalt im Flüchtlingslager Zbączyń (Bentschen) begaben sich meine Eltern, meine beiden Geschwister nach Warschau, wo sie anfangs bei Verwandten wohnten" berichtet Esther. „Als Wohnsitz oder dauernder Aufenthalt bei Beginn der Freiheitsentziehung oder der Freiheitsbeschränkung“ nennt Regina Rosenthal in ihrer eidesstattlichen Erklärung „Falenica bei Warschau, Ulica Wiesjka 11/Kreis Warschau, Polen." Über die Einweisung der Familie ins Ghetto liegen keine genaue Daten vor. Ob Falenica bereits ein Teil vom Warschauer Ghetto war oder später dazu gemacht wurde, bzw. die Familie Ebe später dorthin umziehen musste, bleibt offen.

            Nach der Kriegserklärung Deutschlands an Polen am 01.09.1939 begann bereits  am 04.09. 1939 der Einmarsch der Deutschen in Polen. Die jüdische Bevölkerung wird bald in den eroberten Städten in Ghettos umgesiedelt, später dann in die Ghettos der größeren Städte deportiert. Das Ghetto in Warschau bestand vom Oktober 1940 bis Mai 1943. Bereits am 02. Oktober befahlen die Deutschen allen jüdischen Einwohnern der Stadt innerhalb von sechs Wochen den Umzug in das  Gebiet westlich vom Zentrum, dort mussten die nichtjüdischen Bewohner ihre Wohnungen verlassen. Das Warschauer Ghetto wurde ab der Nacht vom 15. auf den 16. November 1940 (…) mit einer 18 Kilometer langen und 3 Meter hohen Umfassungsmauer abgeriegelt. Das Warschauer Ghetto war das bei weitem größte Sammellager dieser Art. Es wurde Mitte 1940 im Stadtzentrum Warschaus, westlich der Altstadt im Stadtteil Wola zwischen Danziger Bahnhof und dem alten Hauptbahnhof Warszawa Główna und dem Jüdischen Friedhof errichtet. Hierher wurden vor allem Juden aus ganz Warschau, aus anderen unter deutscher Kontrolle stehenden polnischen Regionen sowie aus dem deutschen Reichsgebiet und den besetzten Ländern deportiert. Hier wurden teilweise circa 450.000 Jüdinnen und Juden interniert. Das Ghetto wurde von den Besatzern wiederholt brutal verkleinert. Bei den verbliebenen Ghettobewohnern wuchsen täglich Unsicherheit und Bedrohung. (Quelle:wikipedia

            Für die Antragstellung werden von den Schwestern Belege über den Zeitpunkt der Freiheitsberaubung verlangt. Noch bis Juli 1942 erhält Regina durch Vermittlung ihres Vetters Josef Nasilewicz aus einem Schweizer Internierungslager Nachrichten aus Polen. "Dann hörte jede Verbindung auf", schreibt Regina in ihrer Erklärung. Zwei Postkarten sind als Beweismittel aufbewahrt: eine von Familie Rosenthal vom 19.05.1941; eine von Familie Ebe vom 13.08.1941. Auf ihre Anfrage teilt ihr die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland in Frankfurt am Main mit, dass die Verfügung für alle Juden im Ghetto zu leben, kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen erlassen wurde und dass ab 19.02.1940 die Verpflichtung zum Tragen des Judensterns bestand. Ferner erfahren sie, dass die Zerstörung des Warschauer Ghettos im April 1943 bis Anfang Mai 1943 stattgefunden hat.

Auch den Todeszeitpunkt müssen die Schwestern belegen. Die Anfrage zum Tode der „Deportierten“ in Arolsen ist am 23.05.1957 gestellt; die Antwort trifft am 12.12. 1957 ein. „Meine Nachforschungen nach ihnen durch den Internationalen Suchdienst in Arolsen und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. Frankfurt a/M., Hebelstr. 17 waren ergebnislos,“ heißt es in der eidesstattlichen Erklärung von Regina Rosenthal im Dezember 1958. - All das ist emotional sehr belastend. Wann und unter welchen Umständen ihre Angehörigen umgekommen sind, ist nicht dokumentiert. - Henry erzählt bei unserem Treffen in Frankfurt 2018, er wisse, dass sein Großvater Abraham im Ghetto an Typhus verstorben sei. - Die Auflösung des Warschauer Ghettos wurde ab Juli 1942 systematisch durchgeführt. Entweder verstarben die Angehörigen dort, oder wurden von dort direkt ins Vernichtungslager Treblinka oder Majdanek transportiert. Allein im Vernichtungslager Treblinka wurden vom Juli bis November 1943 mindestens 700.000 bis zu 1.1 Millionen Menschen umgebracht.

 

Die einzelnen Bescheide

 

Am 08. Juli 1957  hatten die Schwestern die Anträge auf Entschädigung ihrer deportieren Angehörigen auf „Schaden an Leben, Freiheit, Eigentum, Vermögen und beruflichem und wirtschaftlichem Fortkommen“ gestellt.

            Sehen wir uns die einzelnen Bescheide an. Eine Entschädigung aufgrund des „Schadens an Leben“ für ihre Eltern wird nach einem Schriftverkehr mit über 99 Seiten am 17.11.61 abgelehnt. Esther hatte ihn gestellt, da sie zum Zeitpunkt der Abschiebung der Eltern minderjährig und in der Berufsausbildung war und kein Einkommen hatte. Er wird abgelehnt, da „Anspruch auf Waisenrente (…) erst ab dem Todeszeitpunkt der Verfolgten besteht.“ Zu diesem Zeitpunkt sei sie bereits verheiratet gewesen, heißt es im Schreiben vom 12.09.61 an Esther Clifford.

Eine Entschädigungszahlung aufgrund des „Schadens an Freiheit“ wird für Abraham und Selda jeweils in Höhe von DM 6150,-- (inclusive Zinsen) am 28.01. und 29.01.1960 bewilligt. „Ihr Entschädigungszeitraum erstreckt sich (…)  vom 19.02.1940 – dem Tag, an dem das Tragen eines Judensterns verpflichtend ist - bis zum 31.07.1943 – dem Tag, an dem Warschauer Ghetto aufgelöst wurde - somit auf 3 Jahre und 5 volle Monate. Da gemäß § 45 BEG  für jeden vollen Monat der Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentziehung DM 150,-- zu zahlen sind, beträgt die an die Erbengemeinschaft zu zahlende Entschädigung DM 6.150,--.“

             Ein „Schaden an beruflichem Fortkommen von DM 5.709,-- (inclusive Zinsen) wird Abraham Ebe am 12.05.61 bewilligt, mit der Begründung: „Der Entschädigungszeitraum beginnt mit der 50%- igen Berufsbeschränkung am 01.01.1936 und der Berufsverdrängung am 01.06.1937, da anzunehmen ist, dass der Verfolgte in den Wochen vor der formellen Betriebseinstellung am 23.06.1937 so gut wie nichts mehr verdient hat. Der Entschädigungszeitraum endet am 31.07.1943, dem wahrscheinlichen Todestag der Verfolgten. „Dabei ist die Entschädigungsbehörde ebenso wie bei der Entscheidung über den Freiheitsschaden davon ausgegangen, dass das Ghetto von Warschau nur bis zu seiner Liquidation im Juni 1943 bestanden hat und dass der Verfolgte die „Vernichtungsaktion“ nicht überlebt haben kann.“ Zur Antragstellung mussten zahlreiche Belege erbracht werden; u.a. wird die eidesstattliche Erklärung des ehemaligen Frankfurter Lederwarenhändlers Ernest I. Erbesfeld beigefügt, der seinerzeit von Abraham Ebe Waren bezog und sich hattevor der Vernichtung  retten können.

 Die Forderungen der Schwestern auf Entschädigung für „Eigentumsschaden“ von Abraham und Selda Ebe werden am 27.09.61 abgelehnt (Schriftverkehr 95 Blatt). Es gibt keinerlei Entschädigung für ihre eigene zurückgelassene Wohnungseinrichtung, die dort untergestellten Möbel der Familie von Willy Rosenthal im Wert von circa RM 7000,-- und für das Werkzeug des Vaters, dessen Wert die Schwestern mit RM 820,-- angegeben hatten. Die Forderungen auf Entschädigung  für “Vermögensschaden“ („good will“) wird ebenfalls nach einem Schriftverkehr von 86 Blatt am 13.6.61 abgelehnt. Die Begründung: „Sie begehren Entschädigung wegen Schadens an Vermögen, der ihrem Vater durch Verlust des Geschäftswertes (good will) infolge der durch NS-Maßnahmen erzwungenen Liquidierung seines Geschäfts entstanden sei….“ Eine „Entschädigung kann nur dann zuerkannt werden, wenn das Unternehmen über die Substanzwerte hinaus einen wirtschaftlichen Wert hatte, der durch Verfolgungsmaßnahmen verloren gegangen ist.“

            Sie erfahren, dass für die Geschwister Rosa und Leo eigene Entschädigungsanträge hätten gestellt werden müssen. Nun versuchen sie es mit Anträgen zur Wiedereinsetzung. Am 11.03.1963 werden jedoch alle Entschädigungsansprüche und Anträge zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für beide Geschwister abgelehnt. Als Begründung heißt es u.a., da sie „nicht rechtzeitig bis zum 01.04.1958“ eingegangen seien, aber auch, da im Antrag um Wiedereinsetzung keine „bestimmten oder bestimmbaren Entschädigungsleistungen für den Erblasser verlangt werden.“ Dies sei für die Gültigkeit eines Antrages erforderlich.

            Es hatte sich inzwischen gezeigt, dass die Antragsfrist zum 01. Oktober 1957 unrealistisch war.  Das Gesetz musste nach und nach modifiziert werden. Von der ersten Modifizierung des Gesetzes 1965 können die Schwestern profitieren, um die Anträge für Rosa und Leo erneut zu stellen. Diesmal ist es Regina, die die Anträge mit Einwilligung der Schwestern einreicht. Doch die Anträge werden letztlich in allen Instanzen abgelehnt. In mehrfachen Anträgen und negativen Bescheiden bis 1971 geht es um die Klärung der Frage, ob Rosa und Leo - wären sie nicht ausgewiesen worden und in der Deportation umgekommen - eine höhere Ausbildung hätten durchlaufen können. Wie alle Geschwister gingen sie bis 1933 in das Philanthropin. Beide waren künstlerisch begabt und hätten studieren sollen. Für Leo wird am 20. Mai 1970 ein Vergleich angeboten, am selben Tag wird der Antrag zu Rosa endgültig abgelehnt. Nach dem geschlossenen Vergleich vom 13.10.1970 bekommen die Schwestern für ihren toten Bruder Leo einmalig DM 5100,-- (inclusive Zinsen), für ihre tote Schwester Rosagar  nichts. Es heißt in einem allerletzten Bescheid vom 24. März 1971: Rosa „...hat nach Überzeugung der Kammer das Lyzeum nicht aus Verfolgungsgründen verlassen, sondern wegen anderer Umstände, sei es aus schulischen Gründen - schlechte Leistungen, Examensangst -  oder aus famililiären Gründen – auch die Geschwister haben nur die mittlere Reife erworben -. Es bedarf keiner Feststellung, welcher von Verfolgungsmaßnahmen unabhängige Grund für den Abgang der Erblasserin von der Schule maßgebend war. Da die Klägerinnen unterlegen sind, haben sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst zu tragen.“

               Die jahrelange Auseinandersetzung mit den Behörden strapaziert die Schwestern. Ein Attest von Dr. Jerome Kamlet, M.D, New York vom 27.06.1966 bescheinigt Esther: „Infolge von Verfolgungen ihrer Familie hat Mrs. Esther Clifford 1946 einen vollständigen geistigen Zusammenbruch erlitten, der es erforderlich machte, dass sie zwei Jahre in einer Institution behandelt wurde. Ihr Befinden hat sich gebessert, sie hat jedoch weiter unter schwerer Angst und Nervosität mit emotionalen und psychosomatischen Anzeichen gelitten. (…) Auf dieser Basis würde ich sie als 50% erwerbsunfähig bezeichnen. Es besteht kein Zweifel, dass Mrs. Clifford‘s jetziger Zustand zum größten Teil direkt mit der unmenschlichen Behandlung von Seiten der seinerzeitigen Nazi-Regierung von Deutschland während der erwähnten Zeitspanne zusammenhängt.“

            Ein amtsärztliches Gutachten stellt bei Regina eine Fehlsteuerung des Nervensystems fest, man spricht von neuropsychiatrischen Zügen. Ein ärztliches Gutachten des Nervenarztes Dr. Minkowski/Paris vom 12.03.1966 beschreibt sie als "müde, leicht erregbar, immer nervös, unter Druck, traurig, kann nicht schlafen“. Zeitlebens hat sie Beschwerden: Angstzustände, Herzklopfen, nervöse Störungen mit Depressionen.               

              Für ihr „Leben in der Illegalität“ wird Regina Rosenthal am 23.02.1959  eine Entschädigung in Höhe von DM 3.150,--  gewährt: Berechnet wird der Zeitraum vom 10.11.1942 bis Mitte August 1944  - 21 Monate und 5 Tage. Nach jahrelangen Verhandlungen wird Regina augrund des „Schadens an Gesundheit“ zusätzlich eine einmalige Entschädigung für Heilkosten und Medikamente erhalten. Der letzte Brief der Behörde an Regina Rosenthal vom 25.03.2002 zeigt, dass sie zumindest – bis zu ihrem Tode am 11.11.2002 – eine kleine Rente erhält.

 

Der Abschied      

           

Die drei Tage in Frankfurt scheinen Henry zwar erfreut zu haben, aber sie strengen ihn auch an. Unser Angebot, ihm den letzten Wohnort seiner Großeltern und Eltern zu zeigen, lehnt er ab. Es würde ihn zu sehr belasten. Er scheint  an dem gegenwärtigen Leben in Frankfurt interessiert. Wir begleiten ihn bei einer Sightseeing-Tour durch das neu erbaute Alt-Frankfurt, einer Schiffsfahrt auf dem Main, wir besuchen gemeinsam den Maintower und erleben einen Abend in der Weinstube. Nebenbei erzählt Henry, dass er über seine kleine Rente aus Deutschland sehr froh sei. Mein Kontakt zu den beiden bricht nicht ab. Gegenseitig werden Päckchen, Nachrichten und Fotos verschickt.

Olivia war nicht zur Legung der Stolpersteine gekommen. Sie hatte dieses Ereignis nicht mit ihren Eltern geteilt. Schade. Ob sie es bereut? In ihrem Buch, "Wir sind nicht da, um zu verschwinden" sucht sie auf Seite 124 eine Annäherung an ihre Herkunft, doch "Die Fotografie bleibt stumm" schreibt sie. "Ich denke an meinen Urgroßvater in seinem Laden, an irgend einem Wochentag, doch so sehr ich mich auch auf das Bild, das ich von ihm habe, konzentriere, es tritt nichts hinzu. Absolut nichts. (...) Nichts deutet darauf hin, dass ein Teil meiner Geschichte in diesem Foto verborgen ist."

            Am 24.09.2020 erreicht mich die Nachricht von Olivia Rosenthal, dass ihr Vater Henry zuhause in Paris im Beisein von Monique und ihr an diesem Morgen friedlich verstorben ist. Die Reise nach Frankfurt sei seine letzte gewesen. Er habe oft darüber gesprochen, wie wichtig sie für ihn gewesen war. - Mit Henry haben wir einen guten Freund verloren. Henry bleibt in unserem Gedächtnis. Auch erinnern die Stolpersteine vor der Weinstube und das Foto seiner Großeltern im Fenster an ihn. Henry hat sich der Vergangenheit gestellt, auch wenn dies sicher schmerzlich war. Für ihn gilt: "Wir sind nicht da, um zu verschwinden", aber auch „Wir sind da, um uns zu erinnern."

(c) Dr. Hanne Straube